Viele Angeln, grellbunte Köder, reichlich Wellen, das Wiedersehen mit einem zehnarmigen Kopffüßler, aber nur zwei halbvolle Eimer: mit dem Fischer Erico Gomes Martins für ein paar Stunden auf dem herbstlichen Atlantik.
Ein köstlicher Septemberabend neigt sich dem Ende zu. Fim do trabalho! Noélias späte Gäste genießen zufrieden ihr letztes Glas Wein oder nippen schon an einer bica. Da schwingt die Restauranttür noch einmal auf und ein schmaler, sehniger Mann bahnt sich mit zögernden Schritten den Weg in Richtung Küche. Noélia kommt ihm entgegen, wirft einen anerkennenden Blick in den roten Eimer, den der späte Besucher in seiner Rechten trägt. Ein paar Worte, ein kurzes Nicken: comprato, gekauft! So lernen wir Erico Gomes Martins kennen, den Fischer. Regelmäßig bietet er seinen Tagesfang bei Noélia in Cabanas de Tavira an. Und nach einem kurzen Schwatz lädt er uns ein, am nächsten Tag mit ihm hinaus aufs Meer zu fahren. Wir schlagen ein: combinado! Abgemacht: um siebzehn Uhr im O Armazém, einem Café an der Mole von Tavira.
Nur ein- und zweigeschossige Häuser säumen hier die Ufer des Rio Gilão: schlicht manche, umgewandelt zu Tavernen und Souvenirläden, hübsch renoviert andere, wie auch der historische Fischmarkt. Aber nicht nur die flussnahen Gebäude zeugen von der einstigen Blütezeit Taviras. Sondern vor allem die Villen der Thunfischbarone. Denn vom 18. Jahrhundert bis in die Siebzigerjahre lebte die Küstenstadt bestens vom Fang und von der Verarbeitung des roten atum.
Erico drängt zum Aufbruch. Die Flut steigt – und er muss noch zum Bankautomaten. Geld ziehen für die Arbeit auf See? »Nein, im Gegenteil. Ich muss bezahlen dafür«, seufzt der Mittdreißiger. Staunend sehen wir, wie auf dem Display des multibanco, an dem üblicherweise ein Menü zum Abheben von Euroscheinen aufpoppt, nach Einstecken der Karte plötzlich Schlagwörter wie Pagamentos ao Estado, Zahlungen an den Staat, und Licença de Pesca, Fischereilizenz, erscheinen. Und wenig später in einer Unterrubrik Fragen auftauchen wie: Süßwasser oder Salzwasser? Hafen oder offenes Meer? Routen oder Netz? Portugiese oder Ausländer? Routiniert tippt Erico die Antworten ein; Name, Adresse und Steuernummer musste er schon vorab offenbaren …
Ericos Boot ist an der Kaimauer nahe der Ponte dos Descubrimentos vertäut. Einen echten Hafen gibt es in Tavira nicht mehr; das schwere Erdbeben von 1755 führte mit seiner Flutwelle zur Versandung des Beckens. Energisch wirft der junge Fischer den Außenborder an. Wir sind schon recht spät dran, haben noch ein paar Fläschchen Bier gekauft – und nun tuckern wir, bei noch immer fast dreißig Grad, unter der Brücke der Entdeckungen hindurch, folgen der letzten großen Schleife des Gilão in Richtung Meer. Bis zu Quatro Águas, der Vierwasserkreuzung, an welcher der Fluss die Lagune Ria Formosa quert, bevor er ins Meer mündet, säumen Salzbecken die Ufer. Und immer wieder staksen rosa Flamingos durch die Salinenszenerie.
Gegenüber des kleinen Yacht- und Fährhafens Quatro Águas duckt sich die Capela Nossa Senhora do Carmo. »Das Kirchlein bildete einst, zusammen mit dem turmbewehrten Verwaltungssitz im Haus eines gewissen João da Silva Ferreira Neto, das Zentrum unserer Thunfischstation«, erzählt Erico. »Rund zweihundert Seeleute lebten während der Fangsaison von März bis September mit ihren Familien in diesem arraial.« Es umfasste auch eine Schule, einen Gemischtwarenladen, eine medizinische Versorgungsstelle und eine ganze Reihe von Schuppen. »In ihnen wurden großen Fangboote repariert und die Stellnetze gelagert«. Bis zu drei Kilometer lang waren diese geknüpften Fallen für den Roten Thun; trichterförmig wurden sie auf dem Meeresgrund ausgelegt und mit Ankern beschwert. »Beim Arraial do Barril, der zweiten erhaltenen historischen Thunfischstation ganz hier in der Nähe, könnt ihr diese alte Fangtechnik noch sehen. Sie haben dort ein kleines Museum eingerichtet – und den Cemitério das âncoras mit verrosteten Ankern in den Dünen.«
Auch das Arraial Ferreira Neto, inzwischen umgewandelt zu einem Hotel, birgt einen nucleo museo: In einem Raum hinter der Lobby erinnern Schautafeln und alte Fotos an die ehemalige Bestimmung des Areals. 1881, so erhellt eines der Dokumente, wurden an der algarvischen Küste dreiundvierzigtausend Stück Thunfisch gefangen; in den Sechzigerjahren waren es nur etwa fünfhundert pro Saison. »Irgendwann blieben die großen Schwärme dann gänzlich aus«. Warum genau, weiß Erico nicht. Wie viele seiner Kollegen, deren Hartschalenbötchen jetzt ebenfalls auf den zunehmend unruhigeren Wellen schaukeln, fischt er aber sowieso nur Einzelexemplare. Und nicht mit Netz, sondern mit Rute und Rolle. Noch auf dem Rio Gilão hatte er vorne am Bug zwei Angeln festgemacht, nun fixiert er, während das Boot alleine Kurs hält, rasch weitere vier am Heck. »Thunfischen geht nur, wenn du fährst; wenn die Leinen in Bewegung sind«. Aha.
Wir halten uns nun westwärts. Der Außenborder röhrt. Und der Mann am Steuer schwärmt: »Ein Bootsmotor ist nur ein Bootsmotor, wenn es ein Honda ist«. Wir grinsen und fragen: »Und ein Bier nur ein Bier, wenn Sagres?« Erico lobt lachend: »Ihr habt es verstanden.« – »Aber kein Witz«, sagt er gleich darauf ernst, »wenn deine Nussschale nachts auf dem Atlantik schaukelt und dein Motor nicht mehr anspringt, dann willst du einen Honda.« Na klar. Und wann kommt das Sagres ins Spiel?
»Jetzt« grinst Erico und steuert nahe an das Boot eines anderen Fischers heran. Wir holen eines der Bierfläschchen aus dem Eis; Erico steckt es zur Übergabe in einen Kescher – quasi die Verlängerung seines Arms. »She will like it! She will be very happy! You never know, maybe she will help me, when I need help!« Ein flüssiger Gruß, der andere freut sich; man weiß ja nie, vielleicht braucht man mal seine Hilfe …
Erico, der neben seinem Fischerhandwerk zwei weiteren Jobs nachgeht, um seine Familie zu ernähren, spricht gut Englisch, hat sich bei den Personalpronomen jedoch konsequent für die weibliche Variante entschieden. Aber jetzt muss er sich mal rasch und wortlos mit der linken Bug-Angel beschäftigen. Dort hat es geruckelt. Am Haken hängt allerdings kein echter atum, sondern ein großer sarrajão, vulgo: Atlantischer Bonito. Auch nicht schlecht; ab in den Eimer. Ein neuer Köder muss her. Stolz präsentiert Erico seine Auswahl, die er »heute morgen in einem Superladen« gekauft hat. Einige der Dinger sehen aus wie kleine neonfarbene Flugzeuge, die andere Sorte wie Mini-Cheerleader-Wuschel.
Allmählich sinkt die Sonne und es wird recht frisch auf dem Boot. Erico trägt immer noch kurze Hose und T-Shirt. Schwärme von Möwen umkreisen nun uns und auch die anderen Fischer. »Sie wollen uns die Beute streitig machen«. Tatsächlich tauchen die Vögel gezielt in Richtung der Angeln. Ein riskantes Manöver. Haken und Leine können ihnen schnell zu Falle werden. Trotzdem: »Hier draußen fängt die Freiheit an! Aber es muss auch jeder auf jeden aufpassen!«
Gleiches gilt für die Jagd nach den Kalmaren. Schnödes darauf Hoffen, dass sie anbeißen – das gibt’s in diesem Falle allerdings für Erico nicht. »Nein, es ist eher wie bei einem Bauern auf dem Land, der erntet. Ich hol’ sie mir, pflücke sie quasi. Aber mit Sorgfalt.« Ein Echolot hilft dabei ebenso wie eine batteriebetriebene Lampe. Denn die Kopffüßer reagieren extrem sensibel auf Licht, schwimmen ihm zielgerichtet entgegen. »Ich bin froh, dass ich keinen Generator mehr brauche, der mir mit seinem Grölen die Schönheit der Stille verdirbt«, sagt Erico plötzlich sehr leise. Und dann erzählt er uns, flüsternd, von der einen Sepia, der er angeblich bereits begegnet war: »She was here yesterday, I could not catch her, she is smart, but not enough, look, look«. Mit einer Angelschnur, die auf ein Stück Plastik gewickelt und mit einem glänzenden, vielhakigen Köder bestückt ist, spielt Erico nun mit dem Kuttelfisch, hüpft dabei gekonnt zwischen all den Utensilien auf dem immer heftiger schwankenden Boot hin und her, vor Freude jubelnd, die präzisen Handgriffe mit ununterbrochener Rede begleitend: »Fifty Euro, maybe sixty. I know it was she«!
Alle sind mittlerweile klatschnass. Und die Landratten frieren. Also Kehrtwende und Kurs Nordost. Es fehlt nur eine gute Stunde bis Mitternacht. Und das Meer zieht sich rasch von der Küste zurück. Als wir gegen dreiundzwanzig Uhr im Hafen anlegen, ragt die Mole gut drei Meter über unseren Köpfen auf. Zwei Männer halten oben ein Schwätzchen. Erico steckt ebenfalls noch voller Energie. »Let’s go to Noélia!« Sein gesamter Fang füllt die beiden roten Eimer allerdings nur bis zur Hälfte: Vier sarrajãos sind darunter, ein Dutzend Kalmare, eine kleine Sepia und die große, fast zwei Kilogramm schwer.
Noélias Restaurant ist um diese Zeit schon geschlossen, die Küche blitzblank geputzt. Für das erschöpfte und hungrige Personal steht jedoch ein Topf bifana-Fleisch auf dem Tisch; daneben Bratkartoffeln. Die nimmt man sich, zu müde, um Gabel oder Löffel einzusetzen, mit der Hand. Noélia inspiziert kurz Ericos Fang, schmunzelt über die Kalmare, die tiefschwarz von der Tinte der Zwei-Kilo-Sepia sind. Als Erico sie in den Eimer warf, stieß sie mit einem lauten Zischen ihre Abwehrwolke aus. Bald darauf brutzeln, zuvor grob zerteilt, ein paar Kalmare mit Zwiebelwürfeln, Sepiatinte, Olivenöl, etwas Knoblauch und Lorbeerblatt in einer schweren Eisenpfanne. »Das bekommt ihr nicht oft als Essen, ist superfrisch, aber auch etwas fest deswegen!«, lacht unsere Gastgeberin.
Ein köstlicher Auftakt zu einer kurzen Septembernacht. Mit einer Portion Freiheit als Vorspeise, die Erico uns auf schon auf dem Meer servierte. —